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Leben und leben lassen. Ein Projekt für Schriftsteller und
Buchhändler .

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6. Anmerkung zu Heineke'ns Idée generale d'une Collection compl.

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Lessings litterarischer Nachlaß.

Lessing, sämmtl. Werke. XI.

1

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Glückwünschungsrede,

bey dem Eintritt des 1743ften Jahres, von der Gleichheit eines Jahrs mit dem andern. 1

Die meisten alten Poeten und Weltweisen, hochzuehrender Herr Bater, haben geglaubt, daß die Welt von Jahren zu Jahren schlimmer würde, und in einen unvollkommenern Zustand verfiele. Wir können hieran nicht zweifeln, wenn wir uns erinnern, was ein Hesiodus, ein Plato, ein Virgil, ein Ovid, ein Seneca, Sallust und Strabo von den vier Altern der Welt geschrieben haben, und wie bemüht sie gewesen mit den lebhaftesten Farben die goldenen Zeiten unter dem Saturn, die filbernen unter dem Jupiter, die kupfernen unter den Halbgöttern, die eifernen aber unter den jetzigen Menschen abzubilden. Es ist zwar schwer, die eigentliche Quelle dieses sinnreichen Gedichts zu entdecken; es kann seyn, daß diese Männer etwas vom Stande der Unschuld im Paradiese gehört haben; es kann seyn, daß sie selbst einmal die heilige Schrift zu sehen bekommen haben, welche ihnen Gelegenheit zu ihren Fabeln geben müssen. Das ist aber gewiß, daß ihre ganze Erzählung, so artig sie auch klingt, ohne Grund ist, und kaum einer Möglichkeit, geschweige Wahrscheinlichkeit ähnlich sieht. Denn erstlich erzählen sie uns solches ohne Grund, ohne Beweis, ohne Zeugniß. Hernach ist auch die Erzählung selbst so beschaffen, daß sie von der Wahrheit sehr entfernt und keines Beifalls würdig zu seyn scheint. Ihre hochgepriesenen goldenen

"G. E. Lessings Leben, nebst seinem noch übrigen litterarischen Nachlasse. Herausgegeben von K. G. Lessing. Berlin, 1795, Th. II. S. 103–118.

Zeiten sind ein bloßes Hirngespinst. Wir sollen glauben, daß eitle und verderbte Menschen ohne alle Gesetze, welche doch die Seele aller menschlichen Gesellschaften sind, weise, tugendhaft und glücklich gelebt haben. Sollte dies wohl möglich sehn? Wir sollen uus überreden lassen, daß eine tiefe Unwissenheit, eine rauhe Lebensart, wilde Sitten, eine unachtsame und faule Muße, unangebaute Felder und Gärten, wüste Einöden, armselige Hütten und Höhlen, nackende Leiber, eine elende und harte Kost, ein Mangel alles Umganges, aller Bequemlichkeiten und aller Annehmlichkeiten, die wahren Merkmahle der glückseligen und goldenen Zeiten gewesen sind. Wir sollen uns einbilden, als lebten wir jetzt in den eisernen, schlimmsten und elendesten Zeiten, da wir doch ganz offenbar an unfern Jahren mehrere Merkmahle der goldenen Zeiten wahrnehmen, als jene Alten gehabt haben. Denn dieses ist unstreitig eine goldene, oder die glückseligste Zeit, in welcher man die meisten und besten Mittel, und die wenigsten Hindernisse findet, die wahre Zufriedenheit der Menschen, die allgemeine Wohlfahrt und die vollkommene Glückseligkeit Aller nach Wunsche zu befördern. Sie dürfen aber nicht mehnen, H. V., als wenn diese kindischen Vorurtheile und abgeschmackten Irrthümer mit unsern uralten Vorfahren alle wären begraben worden. Nein! wir finden auch unter uns einfältige, schwermüthige, mißvergnügte und undankbare Leute, welche ihnen selbst und andern mit den ungerechten und ungegründeten Klagen beschwerlich fallen, daß die Menschen wirklich jetzt in den eisernen Zeiten lebten, daß die Menschen von Jahre zu Jahre schlimmer würden, daß die Welt sich zu ihrem völligen Untergange neigte. So vieles Mitleiden ich mit den kindischen Klagen der Schwachheit habe, so gewiß getraue ich mir doch jezt bei meinen schwachen Kräften zu erweisen, daß eigentlich eine Zeit vor der andern keinen Vorzug habe, sondern, daß ein Jahr dem andern völlig gleich sey. Die Zeit ist eine Ordnung der Dinge, die in der Welt auf einander folgen; sie wird durch die Ordnung unserer Gedanken begriffen, welche sich die Sachen bald als vergangene, bald als gegenwärtige, bald als zukünftige vorstellen. Alles was nach und nach geschieht, geschieht in der Zeit. Ein Jahr ist ein Theil der Zeit, dieser Theil der Zeit wird bald nach seiner Größe, bald nach seiner Beschaffenheit betrachtet, nachdem es entweder von der Meßkunst, oder von der Naturlehre oder Sittenlehre beschrieben wird. Bei den Meßkünstlern heißt ein Jahr diejenige Zeit, da die Sonne die ganze Sommerstraße - durchlaufen

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